Italien und die 'Tessera del tifoso': Das endgültige Aus für die Fankultur?

Mittwoch geht es wieder los: Europapokal - und das gleich gegen einen äußerst spannenden Gegner. Besonders die Geschichte der Fanszene des AS Rom ist sehr facettenreich und die Römer Südkurve gehört zu den berühmtesten Tribünen Italiens. Die ungemeine und einmalige Faszination, welche italienische Fankurven versprühen können, wird seit einiger Zeit jedoch bekanntlich arg gebeutelt. Bereits bei unseren letzten Begegnungen mit Mannschaften vom Stiefel war diese Thematik leider omnipräsent. Eine neue Entwicklung bedroht das Fortbestehen jahrzehntealter Fan- und Ultras-Traditionen aber in bisher noch nicht dagewesenem Ausmaß: die sogenannte "Tessera del tifoso" ("Fankarte").

Pläne zur Einführung einer solchen Karte gab es schon seit 2008, zur Saison 2010/2011 wurde sie nun endgültig eingeführt, von der Serie A bis in die Serie C2. Die "Tessera" ist nötig, um eine Jahreskarte sowie Karten für Auswärtsspiele zu kaufen. Man muss sie bei seinem Verein beantragen, welcher die Daten des Antragstellers an die Polizei weiterleitet. Diese prüft, ob gegen die entsprechende Person in den letzten fünf Jahren Strafen in Bezug auf Fußballspiele oder ein Stadionverbot vorliegen. Ist die nicht der Fall, wird die Karte ausgestellt. In die Karte integriert ist ein RFID-Chip, durch den die Karte geortet werden kann (de.wikipedia.org/wiki/RFID). Die "Tessera" bedeutet also einen weiteren Einschnitt in die eh schon arg geschundenen Fanrechte im italienischen Fußball (von den Einschränkungen diverser Bürgerrechte, wie z.B. der Privatsphäre, ganz abgesehen), und das in einem noch drastischerem Ausmaß als bisher. Es ist zu befürchten, dass der Fankultur dieses Mal endgültig der Garaus gemacht wird. Schließlich werden sich zahlreiche bisherige Jahreskarteninhaber, wenig überraschend, dieser vollkommenen Überwachung, Einschränkung der Freiheit und Missachtung der Privatsphäre nicht unterwerfen. Darunter auch viele Ultras, die ihre Jahreskarten, welche sie zum Teil auch schon seit Jahrzehnten inne haben, verlieren werden. Große und traditionsreiche Fangruppen drohen ihre seit Jahrzehnten angestammten Plätze in der Kurve zu verlieren.

Die "Tessera del tifoso" ist letztlich also nichts anderes als die nächste Eskalationsstufe im Kampf der italienischen Regierung gegen die organisierten Fans. Wie zahlreiche Dekrete vorher wird die Fankarte das nächste Gesetz sein, das an den eigentlichen Problemen vorbeiführt. Wir leugnen gar nicht, dass auch die Frage gestellt werden kann, welchen eigenen Anteil die italienische Ultras-Bewegung, die ja nicht nur Tausende Mitglieder sondern auch unzählige Sympathisanten hinter sich weiß, an ihrer zunehmenden Marginalisierung und der immer geringeren gesellschaftlicher Lobby hat. Fakt ist aber, dass die "Tessera" das, was sie offiziell wohl eigentlich bewirken soll (eine Eindämmung der Gewalt, höhere Zuschauerzahlen) nicht erreichen wird. Das Problem der halbleeren Stadien beispielsweise wird durch die Tessera nicht gelöst sondern eher noch verschärft werden. Noch weiter aus den Stadien verbannt werden wird die Folklore: die Gesänge, Fahnen, Choreographien. All das also, was den Stadionbesuch erst zu einem ganz besonderen Erlebnis macht.

Natürlich sind die Fankurven nicht nur von Unschuldslämmern bevölkert. Wie so oft ist die Welt eben nicht nur schwarz/weiß, sondern wesentlich komplexer. Den Ultras vom schlechten Abschneiden der italienischen Nationalmannschaft bei der WM bis hin zu den sinkenden Zuschauerzahlen die Schuld an praktisch allen Problemen des italienischen Fußballs geben zu wollen, ist allerdings teils hanebüchen (Südafrika), teils schlichtweg falsch, wie am Beispiel der Zuschauerzahlen zu erkennen. Waren in den Hochzeiten des "Movimento Ultras", also in den 70er und 80er Jahren, die Stadien noch voll, ist das Bild der halbleeren Stadien ohne die frühere Folklore erst im Zuge der zunehmenden Verdrängung der organisierten Fans aus den Stadien entstanden. Auch in den 90er Jahren, als die Serie A als stärkste Liga der Welt galt, konnte man neben den besten Spielern auch diese ganz eigene und unerreichte Mischung aus Begeisterung, Fantasie, Leidenschaft, Energie, Anarchie wie auch perfekter Organisation der von den Ultras angeführten Fankurven mit ihren fantastischen Gesängen und großartigen Choerographien noch erleben. Nachteilig für die damalige Vormachtstellung des italienischen Vereinsfußballs kann die Ultras-Bewegung also nicht gewesen sein. Vielmehr ist diese traditionsreiche Bewegung ein schillernder und unverzichtbarer Bestandteil des calcio. Wer sie zerstören will, beraubt ihn eines nicht zu unterschätzendenTeils seiner Faszination.

Dennoch wird immer wieder betont, dass es allein die Ultras wären, welche "normale" Fans, Kinder und Familien vom Stadionbesuch abhalten würden. Dass eher das verlorene Vertrauen der Menschen an die Ehrlichkeit und Rechtmäßigkeit im Profifußball (Stichwort Bestechungsskandal), der bürokratische Aufwand zum Erwerb einer Eintrittskarte (Verkauf nur gegen Vorlage des Personalausweises, zudem oft kein Kartenverkauf am Spieltag selbst, so dass ein spontaner Stadionbesuch unmöglich gemacht wird) oder die teils horrend hohen Eintrittspreise für leere Tribünen sorgen könnten, wird mit keinem Wort erwähnt. Logisch, müssten sonst doch zahlreiche Personen in hochdotierten Positionen ihr eigenes Fehlverhalten eingestehen. Die Aufmerksamkeit auf einen vergleichsweise wehrlosen Sündenbock zu fokussieren um vom eigenen Fehlverhalten abzulenken, ist schließlich ein bewährtes Mittel unter Politikern und Funktionären. Dazu noch etwas öffentlichkeitswirksamer, in der Realität aber an den eigentlichen Problemen vorbeigehender, im Grunde planloser Aktionismus – und nichts anderes ist die "Tessera del tifoso" - auch das nichts wirklich Neues, Monsieur Sarkozy lässt da gerade besonders eifrig grüßen.

Dass durch die Einführung dieser Karte die Zuschauerzahlen wie anfangs erwähnt weiter sinken werden, liegt auf der Hand. Ein gutes Beispiel liefern unsere Gäste vom kommenden Mittwoch: Verbuchte der AS Rom letzte Saison noch 27000 Jahreskarteninhaber, waren bis kurz vor Beginn dieser Spielzeit lediglich 7000 Abonnements verkauft. Und das obwohl die Roma letztes Jahr eine angesichts der vergleichsweise geringen finanziellen Möglichkeiten sensationelle Saison spielte und überraschend Vizemeister wurde. Wie groß die Begeisterung in Rom daher eigentlich wäre, lässt sich anhand der beeindruckenden Zahlen an Anhängern bei den letzten Auswärtsspielen der vergangenen Saison (10000 in Bari, 8000 in Parma und 18000 (!) bei Chievo Verona) sowie beim Supercup-Finale in Mailand Ende August (hier unterstützten 20000 Römer ihre Mannschaft) erahnen. Dass der Dauerkartenverkauf trotz dieser großen Euphorie derart drastisch zurückging, zeigt überdeutlich, dass es eben nicht nur eine kleine Minderheit ist, welche die Fankarte ablehnt, wie gerne von den Medien behauptet.

Natürlich ist diese Entwicklung im Ursprungsland der Ultras für uns als "Ultra-Begeisterte" besonders erschreckend, besorgniserregend ist sie aber auch aus der Sicht jedes anderen Fußballfans. Schließlich werden auch zahlreiche hiesige Law&Order-Extremisten und Geschäftemacher in den nächsten Wochen und Monaten interessiert gen Süden blicken und verfolgen, inwieweit es gelingt, die traditionelle Fankultur aus den Stadien zu vertreiben und sie durch eine unkritische Massen an Besserverdienenden zu ersetzen. Großes Vorbild hierbei ist England, wo die Premier League nach und nach zu einem seelenlosen Spielplatz für milliardenschwere Investoren wird. Soll so die Zukunft des europäischen Fußballs aussehen?

Unsere Solidarität gilt daher der italienischen Ultras-Bewegung mit ihrer jahrzehntealten Tradition, ihren Anhängern und Sympathisanten sowie allen Tifosi, die durch diese unsinnige Regelung aus den Stadien vertrieben werden sollen.

Fußball lebt durch seine Fans - NO ALLA TESSERA DEL TIFOSO!

Munichmaniacs 1996 und Schickeria München