in den Räumen der Schickeria eine Lesung aus dem Buch "Tifare Contro" von Giovanni Francesio mit anschließender Diskussion statt. Die Veranstaltung war sehr gut besucht und auch das "Drumherum" mit Burgern, Pasta und Borghetti-Bar überzeugte.
Gelesen wurde von Kai Tippmann, dem Blogger vom bekannten und geschätzten altravita-Blog und Übersetzer der deutschen Version des Buches. Tippmann ist langjähriger Milan-Fan und seit einigen Jahren nach Mailand gezogen. Durch jahrelange Kontakte in die Szene und als Besucher der Mailander Curva Sud wartet er mit Fach- und Insiderwissen über die Ultras direkt aus dem Mutterland unserer faszinierenden Fankultur auf. Tippmann weiss wovon er redet, er ist Teil der Ultras-Kultur. Dies wurde nicht erst in den schon vor der Lesung stattfindenden Gesprächen über Dies und Das der Ultras-Welt in kleiner, informeller Runde klar. Doch wer regelmäßig (was absolut zu empfehlen ist) auf altravita.com vorbeischaut, wird das eh wissen. Vor zahlreich erschienenem Publikum las er einige Kapitel und Absätze aus dem Buch, die im Ritt durch die Jahrzehnte auch denjenigen einen guten ersten Einblick in das Buch und die darin beschriebene subjektive Sicht auf die Geschichte der Ultras in Italien eröffnete, die das Buch noch nicht gelesen hatten.
In der darauf folgenden Diskussion zeigte sich recht schnell, wo das Publikum Stärken und wo Schwächen des Buches sieht. Diese wurden, bei allem nötigen Respekt vor dem nicht anwesenden Autor Giovanni Francesio und seiner langjährigen Kurvenerfahrung sehr deutlich formuliert und wir wollen sie Euch auch nicht vorenthalten.
"Tifare Contro" ist ein an sich für Ultras aus Deutschland sehr gutes Buch, und zwar weil kein anderes Buch, das in deutscher Sprache bisher verfügbar wäre, dem Leser so kompakt Hintergrundwissen zu historischen Entwicklungen und bestimmten zeitgeschichtlichen Ereignissen liefert, die für den italienischen Ultra absolutes Basiswissen darstellen, ja jedem - der sich dieser Bewegung zu Recht zurechnen möchte – in Fleisch und Blut übergegangen sein dürften. Und selbiges sollte eigentlich auch für den deutschen Ultra gelten. Wenn man Teil einer Kultur ist, die ihre historischen Wurzeln an einem anderen Ort, in einer anderen Umgebung hat, dann sollte man auch genauestens, in jedes Detail verliebt über diese Wurzeln und die Entstehung und Entwicklung der Kultur Bescheid wissen. Von daher betrachtet – absolute Pflichtlektüre!
Allerdings kann "Tifare Contro" aus unserer Sicht eben bei weitem nicht uneingeschränkt empfohlen werden. Ohne entsprechend kommentiert zu werden, kann es, dank des oft weiten Interpretationsspielraumes und manch eher frustrierten als konstruktiven Gedanken, geradezu von Ultras weg und den geneigten Leser in die Irre führen. Uns erscheint es daher als von entscheidender Bedeutung, die im Folgenden dokumentierte Diskussion über das Buch beim Lesen im Hinterkopf zu behalten:
"Tifare Contro" beschreibt in sehr guter Weise einschneidende Ereignisse in der über 40 jährigen Geschichte der italienischen Ultras. Diese Geschichte ist untrennbar verbunden mit Ereignissen und Namen, und auch – man muss es leider sagen – mit einigen Toten. Dinge, die jeder italienische Ultrà sofort parat hat. Jeder deutsche Ultrà sollte sich mit der Geschichte unserer Bewegung und deren Ursprung beschäftigen und kein anderes Buch fasst diese Geschichte bisher besser zusammen, als "Tifare Contro". Leider beschränkt sich der Autor darauf, diese Geschichte anhand von absoluten Tiefpunkten zu beschreiben, die zweifelsohne zur Erklärung der Entwicklung, die unsere Bewegung in ihrem Ursprungsland gemacht hat, notwendig sind - der Geschichte an sich, vor der sich der Autor selbst an etlichen Stellen verneigt und ihr geradezu spürbar nachtrauert, aber in keinster Weise gerecht werden. Klar lässt sich die Geschichte der Ultras auch mit einer Aufzählung einzelner negativer Ereignisse mit katastrophalen Folgen beschreiben, sie handelt aber viel, viel mehr von positiven Ereignissen und Emotionen, die Spieltag für Spieltag, landauf und landab tausende, im Ganzen wohl hunderttausende italienische Jugendliche und Junggebliebene fasziniert, begeistert, gefesselt hat. Um dies zu erklären, reicht eine Kette von tragischen und manchmal fahrlässigen und dummen Taten nicht aus. Um es zu verstehen, muss man die Faszination der italienischen Kurven vielleicht nicht mal live erlebt haben, es reicht ein paar Fotos anzusehen um zu merken, das ganz andere Dinge als die im Buch beschriebenen einen großen Teil der Geschichte von Ultras ausmachen.
Der Autor scheint unserer Meinung nach gefangen zu sein im Wehmut. Getrieben von Trauer und der Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit der Freiheit. Gleichzeitig (oder gerade deswegen) kritisiert er die eigene Szene – teilweise sicher notwendig – in einer sehr scharfen Art und Weise, bzw. wenn man ehrlich ist richtet er quasi bereits über sie. Die Ultras hätten es nicht geschafft, Selbstregulierung zu praktizieren (da sie es nie richtig versucht hätten) und damit im Wechselspiel mit der Polizei (beide Seiten wären Schuld, gefährliche Gleichsetzerei – gerade in einem Land wie Italien, auch was er über Genua G8 schreibt ist im Hinblick auf die Notwendigkeit polit. Militanz diskutabel) Ereignisse produziert, die eine Gesellschaft einfach nicht tolerieren könne. Dem ließe sich jetzt entgegen halten, dass die Selbstregulierung überwiegend eben schon funktioniert hat. Im Gegensatz zu anderen Ländern sogar geradezu hervorragend – gerade weil es eben das organisierte Fantum der Ultras gegeben hat. Die Freiräume von denen er schwärmt wären nie möglich gewesen, hätte man sich in ihnen nicht mit einer selbst gewählten Ordnung und einer eigentümlichen Hierarchie selbst reguliert. In unzähligen Städten hat das auch nie ein wirkliches, in anderen kein dramatisches Problem dargestellt. Die Selbstregulierung hat eben nur nicht immer, nicht in jedem Fall funktioniert. Wenn man sich ansieht, wie viel Herzblut, wie viel echte, ehrliche Emotion in ihrer reinsten Form in Italien im Spiel war – dann hat sie vielleicht sogar außerordentlich gut funktioniert, wenn man bedenkt was alles noch im Bereich des Kontrollierbaren liegt. Was bestimmte Dinge angeht hat sie aber auch versagt. Ok. In einer solchen Form ausgewogen zu schreiben wäre aus unserer Sicht angebracht gewesen. Francesio macht das nicht – und dieses Beispiel steht exemplarisch für seine ganze persönliche Kommentierung von 40 Jahren Ultrasgeschichte.
Man habe es (und hier wäre das Wörtchen "mancherorts" angebracht gewesen) versäumt, die wenigen extremen Gewalttäter aus den Kurven zu isolieren. Einerseits richtig, andererseits wäre es vielleicht wichtig darauf hinzuweisen, wo man in etwa die Grenze verorten sollte. Dort wo Otto Normalbürger einen extremen Gewalttäter sieht, oder da wo selbst die unter bestimmten Umständen durchaus gewaltbereiten Vollblut-Ultras der Kurven jemanden als nicht nur gewalttätig sondern sogar extrem gewalttätig bezeichnen würden? Denn ganz ohne "Gewalttäter" und ein paar Psychos hätte es die wunderschönen Freiräume, die der Autor so preist, eben nie gegeben. "Freiheit wird nicht gewährt, sondern immer nur erkämpft!" sagt ein altes Sprichwort. Und genauso ist es in diesem Fall. Die "befreiten Territorien" der Kurven hätte es nie gegeben, da die Polizei natürlich gegen Ordnungswidrigkeiten und Verstöße gegen das bürgerliche Gesetzbuch logischerweise stur vorgegangen wäre, wenn sie nicht die Rechnung gemacht hätte, doch wegen z.B. ein paar Joints oder einem Spruchband keine bürgerkriegsähnlichen Zustände auslösen zu wollen. Ohne das "Abschreckungspotential" einer oft nicht zu durchschauenden Kurve hätte das nicht funktioniert. Übrigens auch eine Form von Regulierung. Solang es sich die Waage hält. Und da sind wir wieder an der Stelle wo man die teilweise mangelhafte Selbstregulierung durchaus wieder kritisieren darf. So geht der Autor aber leider nicht vor.
Auch was er zu den Scontri (den Kämpfen) schreibt, wird wahrscheinlich von kaum einem Ultra – weder von einem der alten noch der neuen Generation – so unterschrieben werden. Ja, man kann darüber reden, dass Gruppen angefangen haben aus jedem Scheiß ne Rivalität zu machen bzw. auch noch mit dem hinterletzten eigtl. völlig unbedeutenden Gegner eine Rivalität geradezu zu suchen und aufzubauen um Auseinandersetzungen zu rechtfertigen. Dabei ging es dann aber – wenn man ehrlich ist – nicht mehr um wirkliche Rivalitäten, vielleicht auch gar nicht mehr um den Gegner – sondern vielmehr um den zweifelhaften Ruhm, den man durch ausgetragene Kämpfe erlangen wollte. Und ja, man MUSS sogar darüber reden, dass bestimmte Art und Weisen Kämpfe auszutragen, z.B. mit Messern, Eisenstangen oder Papierbomben, von Grund auf eben gar nicht angehen und von einer Bewegung, die sich selbst gerecht werden will, unmissverständlich geächtet gehören.
Aber andererseits darf man es auch nicht so aussehen lassen, als wären jegliche selbst gestartete Aktionen, die nicht nur der viel zitierten "Verteidigung" dienen (die wäre dieser Logik zufolge ja nie nötig), auch gegen wirkliche Rivalen Fehl am Platz oder als wäre die Ansicht, in diesen Scontri würden sich eben die richtig guten von den guten Gruppen unterscheiden, Irrlehre. Auch die Scontri und wie sie geführt werden sind eben Erkennungsmerkmal der Ultras. Um es mit den Worten Che Guevaras zu sagen: "Um für etwas zu kämpfen, muss man es sehr lieben. Um etwas sehr zu lieben, muss man bis zur Verrücktheit daran glauben.". Ultras glauben (dass sie dies bis zur Verrücktheit tun, ist geradezu ein Charakteristikum), Ultras lieben (gerade das ist es ja, was die Bewegung der Kurven so unvergleichlich schön und wahre Fans zu den vielleicht letzten Romantikern macht) und ja, Ultras kämpfen auch! Manchmal. Nicht gegen alles und jeden natürlich – und vor allem nicht grundlos, aus purer Lust an Gewalt. Wohl aber gegen Lokalrivalen oder die 4, 5 Städte im Land, deren Kurven oder Ultragruppen man aus bestimmten charakteristischen, ideologischen oder historischen Gründen so gar nicht abhaben kann. Auch das ist Ultras. Punto e basta.
So weit so gut, als Lösung jedoch preist Francesio immer wieder das so genannte "englische Modell" an mit modernen klinischen Stadien, totaler Überwachung, Sitzplatzzwang und Ticketpreisen, die sozial schwächer gestellte ausschließen. Dabei scheint er zu übersehen, dass das "englische Modell" in England selber die Fankultur zerstört hat und wahrscheinlich in jedem Land die Fankultur vor größte Probleme stellen, wenn nicht sogar in ihrer Existenz bedrohen würde. Die Geschichte der Ultras in Italien und die Freiheit ihrer Kurven jedenfalls, denen Francesio so sehr nachtrauert, wären unter solchen Vorzeichen wohl kaum denkbar gewesen. Von daher muss man Francesios Sympathie für das "englische Modell" als nichts anderes als schizophren bezeichnen.
Seine Argumentation baut der Autor unter anderem darauf auf, dass der so genannte "ehrenhafte Kampf" zwischen Ultras (in Italien) de facto nicht möglich sei. Dies habe die von ihm niedergeschriebene Geschichte angeblich bewiesen. An andere Stelle hebt er aber sehr wohl Kurven hervor, die in seinen Augen den Werten der Ultras konsequent folgen und spricht unumwunden seine Hochachtung für diese aus. Ein weiterer Punkt, an dem widersprüchliche Standpunkte im Buch auffallen. Ohne die Freiheit und die Freiräume, die die italienischen Kurven über Jahrzehnte dargestellt haben, wäre die großartige Welt der Ultras nicht denkbar. Für diese Freiheit sind die Werte der Ultras, Mentalität und Kohärenz absolut unverzichtbar.
Das Einfordern von Selbstregulierung und die Suche nach eigenen Fehlern sind, auch angesichts der Situation zwingend notwendig und setzen vielleicht sogar zu spät ein. Insofern könnte man "Tifare Contro" auch als eine extreme Position begreifen, die in einer szeneinternen Diskussion als bewusst gesetztes Korrektiv verstanden werden sollten. "Tifare Contro" ist allerdings nicht nur an die italienischen Ultras gerichtet, sondern eher an die interessierte Öffentlichkeit. Insofern könnten die zum Teil radikalen Aussagen als ein Versuch gewertet werden, in einer den Ultras feindlich eingestellten öffentlichen Diskussion noch Gehör zu finden. Dabei verliert der Autor unserer Meinung nach aber den Blick dafür, dass eben nicht nur die Ultras mit ihrer Gewalt, oder eine Spirale der Gewalt mit außer Kontrolle geratenen einzelnen Polizeieinheiten für die derzeitige Situation verantwortlich sind. Die Exzesse sind nicht die Gründe für den Krieg des Staates gegen die Ultras. Sie liefern dem Staat nur zusätzliche Argumente. Dem Staat geht es erklärter Weise darum, die Logik der Ultras zu brechen. Der Einfluss den diese Bewegung bekommen hat, seine Faszination die sie über Jahrzehnte als bedeutendste Jugendbewegung Italiens auf Hunderttausende ausgeübt hat und seine Werte wie Solidarität und Geradlinigkeit stellen für den Staat mit seiner kapitalistischen Funktionslogik eine Bedrohung dar. Was man nicht versteht stellt eine Bedrohung dar, also lässt man es verbieten. Werden Verbote nicht akzeptiert und Freiräume geschaffen in denen andere freizügigere Regeln gelten, lässt man die Verbote eben durchsetzen und die Freiräume schließen. Überall da, wo man kann.
Berücksichtigt man diese Anmerkungen und sieht man das Buch als das was es ist, EINE Geschichte der italienischen Ultras, so ist das Buch für den interessierten deutschen Leser zu empfehlen. Es ist eben nur eine mögliche und noch dazu höchst persönlich geprägte Sicht der Dinge. Es ist eine Ergänzung zu z.B. hunderten Ausgaben Supertifo, die andere Aspekte der Ultras in den Vordergrund stellen. Es schafft Grundlagenwissen. Es fasst wie bereits erwähnt Ereignisse, die in der Geschichte der Ultras große Bedeutung gespielt haben, sie aber keinesfalls alleine erzählen können, zusammen wie kein anderes Buch. Erwartet man DIE Geschichte der Ultras oder sogar Lösungsansätze für ihre scheinbar aussichtslose Situation, so wird man enttäuscht (oder, wenn man selber Italienexperte bzw. -liebhaber ist, sogar stellenweise zornig) werden.
Man sollte allerdings auch sehen, dass das Buch von einem Autor mit italienischem Hintergrund für Italiener geschrieben worden ist. Von jemandem, dem es außerordentlich weh tut, die Bewegung der er jahrzehntelang angehörte und die er liebt im derzeitigen, historisch negativsten Zustand zu sehen. Deshalb wird gehadert, schizophren bis melancholisch hin und her geschwankt und auch gewettert und verflucht. Für eine Leserschaft der Normalbürger auf der einen Seite, die vielleicht gar keinen wirklichen Einblick in die Welt der Kurven hatte (und der man das Gute und Einzigartige, das es sich als ital. Kulturgut zu erhalten lohnt, näher bringen will) und für die Ultras auf der anderen Seite, die vielleicht lange versäumt haben sich mit Reflektion und daraus resultierender Selbstkritik auseinanderzusetzen. Gerade im Bezug auf die zweite Gruppe könnte man das Buch, angesichts der Wut, die auf mancher Seite in einem aufkommen kann bzw. des "Verrats" den man manchmal wittert, eben doch auch als bewusste und somit wohl gelungene Provokation ansehen. "Tifare Contro" bietet also einen Denkanstoß, einen Einstieg in eine mögliche Diskussion. Was es nicht bietet, ist eine neue Ultrà-Bibel, die sozusagen das neue, reine bzw. eigentlich "ursprüngliche" Ultras-Ideal liefert.
In diesem Sinne: KAUFEN (v.a. deshalb um dem aus Szenekreisen gegründeten Selfmade-Verlag das finanzielle Desaster zu ersparen, somit sein Überleben zu sichern und uns allen weitere übersetzte Werke aus dem Mutterland der Ultras zu bescheren!!!), die historischen Details unter 1x1 des Ultras aka Pflichtwissen abspeichern und sich zu den Kommentaren und Wertungen des Autors seinen Teil denken!
An dieser Stelle noch mal ein riesiges Dankeschön an Kai Tippmann! A la prossima…