DER FAN - DAS UNBEKANNTE WESEN

Welcher Stellenwert steht einer Fankurve zu?

Da uns und den anderen organisierten Fans natürlich jede Menge Fragen gestellt wurden, was wir zu sein glauben, was wir erreichen wollen, "wie gefährlich" wir sind und allerlei mehr, wollen wir die interessierte Öffentlichkeit gerne mit ein paar weiteren Hintergrundinfos versorgen und vielleicht auch dafür sorgen, dass man sich neue und v.a. andere Fragen stellt. "Die Fans" nämlich grundsätzlich als irgendwie suspekte, bestimmt aber zumindest verblödete Masse wahrzunehmen führt im Jahre 2011, in dem organisiertes Fantum längst zu einer durchdachten, emanzipatorischen Bewegung geworden ist - die sich eben deshalb in der für andere Leute belanglosen Fußballwelt abspielt, weil die Betroffenen eben entschieden haben, ihr Leben rund um den Fußball zu leben – ja nicht wirklich weiter.

Die Journalisten sollten ihrem Auftrag gerecht werden und rausfinden wie die Dinge wirklich sind, nicht nur längst überkommene Stereotype reproduzieren. Und die Vereinsverantwortlichen sollten beginnen, die "Chancen" der von den Fans geschenkten "irrationalen Leidenschaft" und des ungeheueren kreativen Potentials der Selbstorganisation zu erkennen, wovon in 80% der Fälle alle Seiten nur profitieren könnten, anstatt sich vollkommen paranoid nur von nicht näher definierbaren "Gefahren" umgeben zu fühlen und das Gespenst vom "bösen Fan", der ganz garantiert das Ende des Fußballs heraufbeschwören wird, an die Wand zu malen.

Schickeria Muenchen

Da wir natürlich normal formulierte Kritik auch annehmen, reflektieren und beantworten, wollen wir dies auch hier exemplarisch anhand eines Artikels aus dem Kicker tun, der nicht wirklich wohlwollend für uns ausfällt, aber einige Themen auf den Tisch bringt und Fragen stellt, denen wir uns stellen und die wir beantworten wollen. Auch grundsätzlich sind wir der Auffassung, dass – auch über unseren konkreten Fall in München hinaus – eine öffentliche Debatte über die angerissenen Themen überaus wünschenswert wäre.

kicker.de - Uli Hoeneß: "Ich war schockiert"

Offenbar geht es um Machtinteressen, um direkte Einflussnahme auf die Vereinspolitik. "Wir müssen auf die organisierten Fans aufpassen, die einen immer größeren Einfluss auf die Vereinspolitik nehmen wollen", sieht auch Wolfsburgs Trainer Felix Magath ein zunehmendes Problem im deutschen Profi-Fußball.

Schickeria Muenchen

Nun ja, um "Einflussnahme" in Maßen auf die Vereinspolitik geht es zweifelsohne, um großartige "Machtinteressen" eher weniger. Die sucht man wohl besser bei anderen. Aber, was soll "Einfluss" heißen? Sind die Fans übergeschnappt? Ist ihr Wunsch nach einem gewissen Einfluss anmaßend? Gegenfrage: Ist er nicht einfach vollkommen logisch? Würde man nicht eher den für verrückt erklären, der den Großteil seiner Gedanken und Freizeit für seinen Verein "verschwendet", sein Erspartes für diese Passion aus- und vieles andere aufgibt, seiner Mannschaft seit Jahren jedes zweite Wochenende durch Deutschland und oft genug bis an die entlegensten Ecken Europas folgt, sich bei jedem Spiel die Lunge für sie aus dem Leib schreit, zahlreiche Freunde und unzählige Bekannte in und rund um seinen Verein hat – kurz: dessen ganzer Alltag in der ein oder anderen Weise mit seinem Verein zu tun hat, dessen Leben oft genug direkt vom Vereinsgeschehen berührt wird – und der NICHT zumindest in manchen ganz grundlegenden Dingen Einfluss auf eben dieses Vereinsgeschehen haben möchte und dies auch in einem angemessenen Maße als ihm moralisch zustehend ansieht?

Um die Frage gleich selbst zu beantworten: Während das eine bereits eine für Außenstehende schwer zu begreifende irrationale Leidenschaft darstellt, wäre das andere wohl wirklich für jeden total bescheuert, dümmlich-naiv und in keinster Weise nachvollziehbar. Vor allem, wenn man sich vor Augen führt um was es den Fans in den allermeisten Fällen geht: Um Respektsgeschichten, darum im Verein als Kurve ebenfalls als wichtige Institution zu gelten.

Darum, in manchen Fällen dort ein "moralisches Veto" einzulegen, wo die Manager des "modernen Fußballs" über dem Tagesgeschäft das Gespür dafür verloren haben, wann es genug ist. Wann es an die Substanz dessen geht, was für die hinter einem Verein stehende und diesen ausmachende Basis die grundsätzliche Identität und Wertegemeinschaft ihres Clubs ausmacht. Oder dafür, dass ein Fußballverein, an dem eben so viele irrationale Leidenschaften hängen, nie ein stinknormales Unternehmen sein kann und so zwangsweise immer mehr und bunter sein wird, als nur eine Chefetage, 50 Mitarbeiter, ein Trainerstab und der Spielerkader. Keine Frage, all diese Leute sind der Club und sie sind – in bestimmten Dingen – wichtig. Aber andere sind es eben – in bestimmten Dingen – auch. Eine Fankurve und ihren harten Kern oder auch einen langjährigen Fan auf der Tribüne kann man nicht mit einem bloßen Zuschauer im Stadion oder vor dem TV gleichsetzen – ihnen gebührt im Konstrukt des Vereins die gleiche Anerkennung, Wertschätzung und moralische Funktionalität wie beispielsweise einem Ehren- oder Ältestenrat. Angesichts dessen, was diese Menschen für ihre Vereine geben und investieren, kann man es wohl kaum als anmaßend bezeichnen, dass sie ein gewisses "grundsätzliches Mitspracherecht" einfordern - eigentlich handelt es sich eher um eine Selbstverständlichkeit. Es ist eher Hohn gegenüber der ehrenamtlichen Leistung, die auch sie für den Verein erbringen und menschlich gesehen eine Dreistigkeit ihnen dies zu verwehren.

Es geht im Grunde genommen um Selbstverständlichkeiten, um Dinge, die jeder einzelne in seinem Privatleben genau so verwirklicht sehen möchte: Um Respekt, einen gewissen angemessenen Stellenwert, darum, bei Entscheidungsfindungen als ein Faktor von vielen berücksichtigt zu werden – und eben in Dingen, bei denen sich herausstellt, dass sie für die Fanbasis Tabus berühren, vielleicht auch mal der entscheidende Faktor zu sein. Ist das bisschen "Mitbestimmung" wirklich schon zuviel verlangt? Kann es in einem angeblich so demokratischen Land angehen, dass sich vom Sport-Talk am Sonntagvormittag bis hinein in die Gefilde bildungsbürgerlicher Zeitungen die Ansicht formulieren und halten lässt, schon Ansätze von Demokratie würden dem Fußballgeschäft nachhaltig schaden? Passt das noch in die Zeit?

Wenn man manchen "Journalisten", manch Fußballfossil, aber auch einen Uli Hoeneß – oder wie angesprochen einen Felix Magath – so über die Fanbasis, deren Bedeutung und minimale "Mitbestimmung" sowie deren "Gefahren" reden hört, könnte man fast denken, da redet Otto von Bismarck über die Sozialdemokraten. Nur leben wir nicht mehr im Jahre 1878, sondern 2011! Fehlt nur noch die Forderung nach einem "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Fanokratie"…

Genauso halten sich die "Schickeria", die die Aktion in der Allianz-Arena inszenierte, und ihre Sympathisanten für die wahren (FC) Bayern und die Bewahrer des Fußballs. Ein solcher Anspruch verrät eine arg überzogene Selbsteinschätzung, muss sie sich doch mit der Leistung messen lassen, die gerade Hoeneß und seine Kollegen erbracht haben. Freilich muss sachliche Kritik immer erlaubt sein, aber keine Diffamierung.

Dazu sei zunächst gesagt, dass wir uns weder für den FC Bayern, noch für den wahren FC Bayern halten – wohl aber für einen sehr engagierten, authentischen und aufrichtigen TEIL des FC Bayern und somit auch für einen wichtigen. Ähnlich dürfte wohl die Selbstwahrnehmung der Südkurve aussehen.

Zweitens ist festzuhalten, dass es DIE Aktion im Stadion nie gegeben hat, sondern lediglich die Aktionen. Ein Teil von diesen war zwischen verschiedenen Fanclubs, Fangruppen und Einzelpersonen aus der Kurve koordiniert, ein anderer Teil wurde von diesen sozusagen "auf eigene Rechnung" durchgeführt. So waren beispielsweise die T-Shirts und das Umdrehen der Fahnen innerhalb der Kurve abgesprochene und gemeinschaftlich umgesetzte Protestformen. Was die Spruchbänder angeht, so hatten und haben die Gruppen hier freie Hand. Die Spruchbänder der Schickeria sind traditionell deutlich an ihrer äußeren Form erkennbar. Wir zeichnen hier also nur für die verantwortlich, die auch von uns gekommen sind. Das soll wiederum nicht heißen, dass wir uns grundsätzlich vom Inhalt der anderen distanzieren wollen, sondern lediglich verdeutlichen, dass die Südkurve eben aus mehreren Gruppen und Grüppchen besteht und man den Protest eben nicht allein auf die Schickeria reduzieren und damit kleinreden kann. Wenn man die mehr als 130 Fanclubs, welche den "offenen Brief" des Club Nr.12 unterschrieben haben mal mit einem bestimmten Durchschnittswert hochrechnet und dabei zugrunde legt, dass diese Leute eben zu Fanclubs gehören, die man auch regelmäßig im Stadion antrifft, dann ergibt sich ein Bild von tausenden erzürnten und erbosten Protestierenden – und zwar solchen, die im realen Vereinsgeschehen eben auch eine permanente Rolle spielen und bei denen man deshalb auch darüber nachdenken sollte, ob man ihnen nicht eine erhöhte Legitimität zubilligt.

Uns die Bewahrer des Fußballs zu nennen ist sicher eine polemische Überhöhung, die dazu verwendet wird unsere Haltung generell zu diskreditieren. Würden wir uns selber so bezeichnen, könnte man dem durchaus einen gewissen Größenwahn und vor allem eine ganz schöne Fehleinschätzung dessen, was Fußball eben auch sonst noch so alles ist, unterstellen. Gerade was z.B. den unmittelbaren sportlichen Aspekt angeht, die Perspektive des Ausübens einer Sportart durch die Sportler. Darum wissend, würden wir uns, alle anderen Ultras, die in "Supporters Clubs" organisierten ehrenamtlich tätigen Fans und überhaupt alle engagierten, aktiven, ihre Vereine mit Leben und Liebenswertheiten im Kleinen erfüllenden Fans also vielleicht eher als die Bewahrer einer wunderschönen, teilweise widersprüchlichen, aber immer faszinierenden und vor allem gewachsenen Fankultur im und rund um den Fußball bezeichnen. Wobei die organisierten Fans – also Ultras, aber auch "Supporters Clubs" – sich um in diesem Bild zu bleiben, schon als die "Gralshüter" der Fankultur verstehen. Die letzten oder besser einzigen, die – in organisierter Form – etwas dafür tun, bestimmte Dinge zu bewahren und andere in die richtigen Bahnen zu lenken.

Darüber, dass Fans ganz subjektiv etwas "leisten" wurde ja oben bereits geschrieben. Es gibt auch haufenweise Argumente dafür, warum das objektiv so ist – wenn man ihnen einfach anrechnet was sie an Energie, privatem Engagement, ehrenamtlicher Tätigkeit frei von irgendeinem finanziellen Interesse, Initiative, Identifikation und auch - manchmal irrationaler, aber immer ehrlicher und aufrichtiger - Leidenschaft in den Fußball investieren. Und auch das ist eben der Fußball. Nicht der ganze, aber gesellschaftlich betrachtet eine gehörige Portion davon. Dies auch ernsthaft – durch Fakten, nicht nur durch schöne Worthülsen ohne belastbaren Inhalt – anzuerkennen, wäre sowohl Aufgabe von Vereinsoffiziellen, wie auch Journalisten. Ließe sich dann die polemische These von der "maßlos überzogenen Selbsteinschätzung" noch halten? Wohl eher nicht.

Um beim vielsagenden Bild der "Gralshüter", der "Wächter der Vereinsmoral" und denen, die sich diese Aufgabe zu eigen gemacht haben zu bleiben: Was wollen denn so genannte "Gralshüter" im Allgemeinen. Nun ja, sie sitzen an der Stelle, wo es die innersten Dinge angeht und wachen darüber, dass dem Kelch nichts geschieht. Mischt sich so ein "Gralshüter" in die Dinge des Alltags, ins alltägliche Geschäft ein? Eigentlich nicht, oder? Er kommt erst dann ins Spiel, wenn die Dinge fundamental werden. Um wieder aus dem Bild heraus und in die konkrete Situation zurück zu finden: Das ist genau die Aufgabe einer Fankurve bzw. ihres organisierten Kerns, wenn man sie als Institution im Vereinsgebilde versteht, als welche die Fans in der Kurve – mit einiger Berechtigung – fordern, anerkannt zu werden.

Die Fankurve bzw. der organisierte Teil der Fans will(!), soll und kann sich auch gar nicht ins Tagesgeschäft aller möglichen Abläufe in einem Club einmischen. Das wäre wirklich anmaßend, überheblich und letztlich auch einfach dumm. Es gibt Fachleute für alle möglichen Bereiche – und es ist auch richtig und sinnvoll, dass es sie gibt. Die Ultras wollen weder entscheiden, wie die Preise im Fanshop zu gestalten sind, welchen Belag die Sandwiches des offiziellen Vereinscaterings im Stadion haben sollen, welche Büroeinrichtung sich der Vorstandsvorsitzende leisten darf, was der Sportdirektor sagen darf und was nicht, wer nächste Saison rechter Verteidiger spielt, welches todsichere Talent aus Südamerika unbedingt geholt werden muss, wer die Karten für die Haupttribüne bekommt oder an wen die Logen verteilt werden – und nein, sie wollen auch entgegen anderslautender Gerüchte nicht das Training leiten und die Mannschaft aufstellen. Auch wenn mancher Vereinsmitarbeiter und –funktionär wahrscheinlich schon schlaflose Nächte hat: Weder die Südkurve noch die Ultras wollen die komplette Kartenlogistik übernehmen oder bilden sich ein, zukünftig die Transferpolitik diktieren zu müssen. Wahrhaft erstaunliche Neuigkeiten, oder? Ihr da draußen, lasst doch mal die Kirchen in den Dörfern! Und das gilt nicht nur für München, sondern für alle Fußballstandorte, bundes- und europaweit. Warum argwöhnt man eigentlich ausgerechnet gegen die, die als einzige in dem ganzen Spiel zwar Passion hineinstecken, aber keinerlei Gewinnabsicht verfolgen? Schon komisch, oder? Passt anscheinend nicht ins Geschäft. Solchen Leuten kann man doch nicht vertrauen.

Wohl aber wollen die Fans was Kartenpolitik bei Heim- und Auswärtsspielen und Genehmigungen für Fanutensilien für Heim- und Auswärtsfans angeht, mitreden und für Bedingungen werben und diese durchsetzen, unter denen es möglich ist, eine freie, selbstbestimmte und somit kreative und (er)lebenswerte Kurve aufzubauen. Und dazu, dies zu fordern, haben sie auch moralisch jedes Recht! Diese Fans sind nämlich nicht passiv am Konsumieren eines von einer seelenlosen Organisation dargebotenen Events – sondern wollen aktiv ihren Teil eines lebendigen Vereins in weitgehender Eigenverantwortung gestalten können und damit ihren Teil zu Außenwahrnehmung und Ansehen des Vereins beitragen.

Schickeria Muenchen

Und vielleicht wollen sie auch in seltenen Ausnahmefällen einmal, dass bestimmte Personen NICHT Teil "ihres Vereins", nicht Teil des großen Ganzen werden. Und zwar wegen Dingen, die diese Person betreffen und nicht deren Kompetenz oder Leistungsfähigkeit. Mag es sich bei demjenigen auch um den vermeintlich Besten auf seiner Position handeln, es gibt Ausnahmesituationen, in denen andere Faktoren entscheidend überwiegen können. Und dabei ist es den Fans egal, ob es sich dabei um einen Fanbetreuer, Gärtner, Physiotherapeut, Zeugwart, Trainer, Manager oder Präsident handelt. Oder eben zufälligerweise um einen Torwart. Und diese Abhängigkeit eines Neuzugangs nicht nur von seiner Kompetenz her, sondern auch von den Ansichten maßgeblicher Institutionen im Verein (und genau um die Frage, ob diese moralische Faktenlage auch durch diejenigen anerkannt und respektiert wird, die in der Hierarchie des Vereins aus guten funktionalen Gründen höher stehen, geht es doch letztlich) sollte doch gerade einem und speziell unserem Präsidenten alles andere als fremd sein: man denke nur an sein Verhältnis zu Louis van Gaal oder stelle sich vor, sein präsidiales Veto würde übergangen und man holte einen Trainer Daum oder Manager Lemke, nur weil ihn irgendjemand für einzigartig kompetent hielte – und andere Teile des Vereins z. B. (rein fiktiv) keinerlei Probleme mit demjenigen hätten. Auch ob dieser Respektlosigkeit wäre eine Explosion zu erwarten und schockiert darüber dürfte bestimmt keiner sein.

Welchen Stellenwert verdient eine Fankurve - als Institution mit einem komplexen, selbstorganisierten Innenleben - in Anerkennung für Herzblut, Leidenschaft und authentische Loyalität gegenüber dem Club und seiner Geschichte?

"Wegen meiner Hilfe für 1860 und, weil ich den Manuel Neuer nach unserem Spiel in München stark verteidigt habe, habe ich erwartet, dass eine Reaktion von gewissen Leuten kommt. Aber dass sie in der Form ausfällt, hätte ich nie für möglich gehalten. Entsprechend schockiert war ich am Samstagabend"

Die Tatsache, dass man ernsthaft über eine negative Explosion der Gefühle schockiert ist, wenn man als Bayern-Ikone durch persönlichen Einsatz den verhassten, oder vielleicht sollte man besser sagen zutiefst verabscheuten, Lokalrivalen vor dem Ableben rettet, sagt schon einiges darüber aus, wie weit sich die Welt des Präsidenten von der des traditionellen Fans entfernt hat.

Doch wollen wir die Themen zunächst trennen:

a) Manuel Neuer

Was ist das Problem der Südkurve mit dem Top-Torhüter Manuel Neuer? Nein, die Fans sind nicht so blind, nicht zu sehen, dass er ein klasse Keeper ist. Und nein, sie vergessen weder, dass auch schon andere Spieler vom FC Schalke zum FC Bayern gewechselt sind, noch dass wohl jeder jugendliche Fußballer irgendeinen Lieblingsverein hatte, für den er geschwärmt hat. Was wären das für Gründe? Weder haben wir grundsätzlich etwas gegen Spielerwechsel im Profifußball, noch sind wir Quasi-"Rassisten", die einen Spieler wegen seiner Herkunft ablehnen. Nur ist die "Causa Neuer" eben kein Durchschnitts- sondern ein äußerst seltener Spezialfall. Manuel Neuer war nicht nur irgendwie Schalke-Fan, der auch mal Spiele in der Kurve verfolgt hat, oder in irgendeinem Fanclub – Manuel Neuer IST Mitglied in der Buerschenschaft, welche zu den Ultras der Schalker Nordkurve gehört, also jenem harten Kern der Kurve, der durchaus auch mal militant und rabiat werden kann, wenn es um den FC Schalke oder die Freunde aus Nürnberg geht. Und das nicht, weil ihm am Trainingsgelände irgendeiner ein T-Shirt überreicht hat, sondern aus Überzeugung: Weil er mit den Jungs aufgewachsen ist, ein genauso fanatischer Schalker ist und sich auch in vollem Umfang dazu bekennt. An sich nichts Verwerfliches – nur passt er somit eben nicht nach München. Wie sollen die Fans in der Südkurve aus vollen Stücken jemanden anfeuern, von dem sie ALLE wissen, dass dessen beste Freunde in Auseinandersetzungen mit Leuten aus derselben Südkurve verwickelt und dieser in ausdrücklicher und tiefer Abneigung verbunden sind. Angesichts der Tatsache, dass Neuer eben nicht nur Fanleidenschaft honoriert, sondern selbst Teil der radikalen Fanbewegung ist – und das ganz bewusst. Die bundesweite Fanlandschaft ist kein Buch mit sieben Siegeln, die Leute wissen auch über Gegebenheiten in anderen Städten Bescheid. Auch über die Einstellung von Fußballprofis – oder sollen wir lieber sagen Fans. Und Neuer macht ja auch gar keinen Hehl aus seiner besonderen Identifikation mit dem harten Kern der Nordkurve und lässt keine Gelegenheit aus, diese auch zu betonen. Macht auch keinen Unterschied mehr, eine Distanzierung wäre nicht nur der Gipfel an Unaufrichtigkeit, es würde sie auch keiner glauben…

Neuer ist also weder wie ein Oliver Kahn, der einen Publikumsliebling Aumann ersetzte, noch einfach ein "Schalker Jung" wie Olaf Thon, der einst bei Bayern große Erfolge feierte. Hat über Olaf Thon hier jemals jemand ein schlechtes Wort verloren – oder über den gebürtigen Gelsenkirchener und überaus beliebten Hamit Altintop aus dem aktuellen Kader? Nein? Wird auch niemand. Woher man kommt kann man nicht entscheiden – in welchen Gruppen man aus freien Stücken ist schon!

Der junge Mann hat seine Provokation mit der Eckfahne damals nicht ohne Grund gemacht – es war ein Gruß an die Nordkurve, eine Geste für seine "Kumpels". Eine ähnliche Geste sah man von ihm dieses Jahr mit einem anderen Gegenstand – dem Teil einer Werbebande – nach dem Revier-Derby im Dortmunder Westfalenstadion. Manuel Neuer ist eine Provokation. Und der Verein weiss das auch, weil es ihm schon frühzeitig als möglicherweise die kurven- und damit auch vereinsinterne Harmonie gefährdende Problematik geschildert wurde. Muss man den Leuten dann so jemanden direkt vor die Nase stellen? Leuten, die kraft ihres natürlichen Enthusiasmus und ihrer Leidenschaft den Motor für die eigene Kurve und damit für den Rückhalt der Mannschaft darstellen sollen. Leuten, die dann 34+x Mal in einer Saison gute Miene zum dreisten Spiel machen und "fröhlich" ihre Lieder trällern sollen? Ist es notwendig, das Ding so brachial durchzudrücken und damit die Gefühle vieler treuer Fans in der Südkurve zu verletzen? Gilt der "ganzheitliche atmosphärische Ansatz" etwa nicht auch für den Rest-Verein rund um das Spielfeld? Ist es anmaßend von Leuten, die – warum auch immer – dem Verein einen gehörigen Teil ihres Lebens widmen, so zu denken? In anderen Ländern wird dem Phänomen, dass Fans dem Verein ein irrational hohes Maß an Leidenschaft sowie authentische Loyalität schenken, mehr Anerkennung und Wertschätzung entgegen gebracht – und ein ehrlicher Stellenwert zugebilligt. Ist das keine Beleidigung oder zumindest verweigerter Respekt denen gegenüber, die IMMER und ÜBERALL da sind, wo der FC Bayern spielt? Und ist das nicht eine noch viel größere Provokation? Noch dazu, wo man auch die Mittel dazu hätte, einen beliebigen anderen Torwart zu verpflichten, wenn man es sportlich für unbedingt notwendig hält? Oder schlimmer noch – wenn man bereits ein Top-Talent aus den eigenen Reihen im Kader hat, dem selbst ein Sepp Maier eine große Zukunft zutraut?

b) Hilfe für den Turnverein

Wo ist das Problem, von extrem viel mehr Fans als nur der Südkurve mit der Hilfe für den TSV 1860? Klingt die Frage nicht schon an sich lächerlich? Oder ist es im so genannten "Fußball" von heute wirklich schon ganz normal, in eine Frage beiläufig die ganz konkrete Perversion einzubauen? Dass man so was überhaupt laut sagen darf, ohne ausgelacht zu werden. Sollte man sich nicht viel eher darüber wundern, dass sich jemand ernsthaft darüber wundert, dass Hilfe aus dem eigenen Lager für den Lokalrivalen beim leidenschaftlichen Fan von der Basis kolossale Empörung und Wut auslöst? Dass die Leute ein "die da oben – wir hier unten" wahrnehmen und sich angesichts der Tatsache, dass es beim Fußball und der ihn umgebenden Kultur immer auch um "Glaubensbekenntnisse" geht, berechtigterweise die Frage stellen "Auf welcher Seite stehen die da oben eigentlich?" und das ganze als Verrat ansehen. Und wie reagiert Mensch normalerweise auf Verrat?

Viele aus der Fanbasis verbinden mit dem Lokalrivalen eben auch ganz persönliche, oft generationenübergreifende Erfahrungen und Erinnerungen abseits grauer Theorie. Daran, dass ihnen vielleicht schon als kleinen Schuljungen in Giesing ganz reale blaue Steine hinterher geworfen wurden, dass sie und ihr Verein unzählige Male von Leuten, die nichts aber auch gar nichts vorzuweisen haben, aufs niederste vollgepöbelt wurden, dass die Blauen ihren Wiederaufstieg in die Bundesliga bei ihrem ersten Heimderby im Olympiapark mit brennenden Bayern-Kutten zelebrierten, vor allem aber, dass die Anhänger des Lokalrivalen keine eigene Identität besitzen sondern sich nur und ausschließlich über eine durch und durch prollige Anti-Identität gegenüber dem Aushängeschild dieser Stadt definieren und sich daher, obwohl sich eigentlich keiner für sie interessieren würde, ständig irgendwie an den FC Bayern ranhängen müssen um sich zu produzieren – und somit im ganz realen Alltag eben kurz gesagt hauptsächlich eines sind: Lästig, nervig und ÜBERFLÜSSIG!

Oft wird ja unterstellt die Bayernfans könnten nicht rechnen. Würden nicht verstehen, dass es auch ihren Verein einen gewissen Betrag kostet, wenn der Lokalrivale verschwindet. Dem ist aber nicht so. Sie wissen vielmehr, dass ihr Verein extrem wohlhabend ist und sich das leisten könnte - wenn er wollte. Würde man auf der Straße unter eingefleischten Roten rumfragen, würden wahrscheinlich viele Folgendes sagen: "In unserer schönen Stadt wär es noch erheblich schöner, wär man endlich den ungeliebten und verdorbenen Nachbarn und damit ein unnötiges Ärgernis im Alltag los. Wenn dies für einen derart wohlhabenden Verein wie den unseren, und darum geht es ja schließlich auch, schon für – auf die Jahre hochgerechnet – 2 Millionen im Jahr zu haben wäre, wäre dies die beste und lohnenswerteste Investition, die man sich vorstellen kann. Endlich Ruhe – zum Spottpreis. Das würde meine Lebensqualität in München mehr steigern, als es jedes halbe Spielerbein je könnte. Und das gibt's nicht schon für 2 Millionen. Das lassen wir uns den Spaß kosten! Eine größere Freude kann uns die Vereinsführung gar nicht machen!" Und selbst wenn man ein kaltes Anbieter-Kunden-Verhältnis zwischen Verein und Fans unterstellen würde, und dabei davon ausgeht, dass der Verein ein Dienstleister ist, der seinen Kunden Freude und Aufwertung ihrer Freizeit verkauft, würde das noch immer gelten. Es wäre sozusagen "bestens angelegtes Geld". Zumindest in den Augen der Anhänger und Mitglieder.

Und ist es nicht letztlich die Aufgabe der Verantwortlichen im Verein - der VereinsVERTRETER - deren Willen in Vereinspolitik umzusetzen? Dabei kann man die formalen Regeln des Aktienrechts mit Sicherheit problemlos einhalten - und muss es nicht als Alibi dafür anführen, dass man im radikalen Gegensatz zu dem handelt, was die Basis des Vereins möchte.

Um Lokalrivalität bzw. oft durch jahrzehntelange Traditionen begründete gegenseitige Abneigung zwischen Clubs zu verstehen, sollte man vielleicht auch einmal über den Tellerrand schauen: Ohne die Situation hier und vor allem ohne uns als Fans mit der Situation dort und der gelebten Leidenschaft dieser Fans irgendwie gleichsetzen zu wollen – dazu fehlt es auf die Masse gesehen einfach am Stellenwert des Fußballs und der authentischen Begeisterung der Fans – kann ein solcher Blick durchaus lohnenswert sein. Was wäre eigentlich los, wenn bekannt würde, dass Celtic die Rangers rettet, oder Partizan den Roten Stern, Panathinaikos Olympiakos, Galatasaray Fenerbahce, Olympique Marseille Paris, Hajduk Split Dinamo Zagreb, Wisla Krakau Cracovia, Roma die Lazio oder gar Boca Juniors River Plate? Was würde dort mit den verantwortlichen Funktionären passieren? Nun ja, formulieren wir es diplomatisch – der Bogen in dem sie fliegen würden wäre im günstigsten Fall sehr hoch. Alleine die Vorstellung, dass dabei noch eine Rolle spielen würde, ob dies verdeckt und verlogen oder öffentlich und transparent passiert, löst Lachkrämpfe aus. Und hier erzählt man dem interessierten Volk ernsthaft, die Fans hätten "übertrieben" in ihrer Kritik? Angesichts der Tatsache, dass selbige wohl hauptsächlich deshalb so maßvoll ausgefallen ist, weil große Teile des Publikums echte Emotionen mittlerweile verlernt oder, durch von Authentizität befreite Events, aberzogen bekommen haben und der Rest eben genau getan hat, was man in Abrede stellt: Die Lebensleistung des Uli Hoeneß abgewogen gegen einige "Schandtaten" der letzten Jahre.

Muss einen das ernsthaft wundern oder gar schockieren? Nur wenn man ganz weit weg von der Realität ist oder seine Aussagen kühl kalkuliert nach politischen Gesichtspunkten trifft. Wir haben hier also ein Wahrnehmungs- oder ein Glaubwürdigkeitsproblem. Nein, in unserem speziellen Falle haben wir sogar beides zusammen. Die Vereinsverantwortlichen nehmen völlig selektiv wahr, was in ihr Bild von "dem Fan" – dem unbekannten Wesen – passt und sind zusätzlich davon überzeugt, dass es ihre Ansichten vom "richtigen Weg" rechtfertigen, die Deppen und Dümmlinge von der Basis eben auch mal geradeheraus anzulügen, wenn es die Lage der Dinge erfordern sollte. Ist das – angesichts der oben beschriebenen Identifikation der Fans mit dem "Ideal des Vereins" – der richtige Umgang miteinander?

Wundert es wirklich irgendwen, dass die Leute schier ausflippen? Oder ist das nicht größtenteils gespielte Empörung, die dazu dienen soll, Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, gutgläubige Menschen hinter sich zu versammeln und zum Gegenangriff auf die Kritiker überzugehen? Angesichts von Kampagnen mit grotesken Zügen, wie 12(!) Sonderseiten Uli Hoeneß im aktuellen Bayern-Magazin, lässt sich leider kaum anderes vermuten. Es fällt durchaus schwer das zu verstehen, gerade weil Fußball "heutzutage keine One-Man-Show mehr" ist.

Wenn der Vorhang fällt, sieh hinter die Kulissen, die Bösen sind oft gut und die Guten sind gerissen …

Natürlich wollen wir Euch auch nochmal auf folgenden vorherigen Diskussionsbeitrag von uns hinweisen:

"Nur die Ultras"? "Nur ein paar Unbelehrbare"? Oder steckt doch mehr dahinter?

Anbei findet ihr auch wieder einige interessante und lesenswerte Links & Artikel zur aktuellen Thematik:

ZDF-Sportreportage vom vergangenen Sonntag:

Schickeria Muenchen